Schattenleben in Wien

Wien. Samstag. 10.30 Uhr. Eingang Hauptbahnhof.
Es ist wieder Zeit für Unkonventionelles Sightseeing in Wien und eine weitere Facette in meiner Heimatstadt zu entdecken.
Am Plan stand eine Freestyle Tour über das Schattenleben in Obdachlosigkeit.

Student statt Obdachlosem

Mit diesen Eckdaten und der Erwartungshaltung, dass uns ein Obdachloser einen Teil seines Lebens auf der Straße zeigen wird, hielten wir nach ihm Ausschau. Erkannt haben wir den Mann nur am Shades Tour-Schild, das er in Händen hielt. Kurz war ich irritiert, weil uns authenthische Informationen aus erster Hand in Aussicht gestellt wurden. Vor uns stand aber ein Mann, Ende 20 mit ordentlichem Haarschnitt, einem modischen Siebentagebart, adretter Kleidung und unüberhörbar ein „Piefke“. Das konnte also nur ein Student sein, der sich mit solchen Führungen ein Taschengeld verdient. Rasch war klar, dass das eine vollkommen falsche Einschätzung war. Dieser junge Mann namens Robert ist seit gut zwei Jahren obdachlos. Und die adrette Dame, mit der er plauderte, war keine interessierte Tour-Touristin, sondern eine Wienerin ohne Zuhause. Ebenfalls unvorstellbar.

Unsere Tour fühlte sich dann ein bisschen familiär an. Wir waren eine gemütliche Gruppe von insgesamt 7 Personen. Zu meiner Freude war auch Perrine, die sympathische und engagierte Gründerin von Shades Tours mit von der Partie. Und was gab es nun zu sehen? Abgesehen von zwei Obdachlosen, denen man es nicht ansieht, dass sie auf der Straße leb(t)en, gab es vor allem viel darüber zu hören, was wir nie sehen oder gar nicht sehen können.

Rettendes Internet am Hauptbahnhof

Der Startpunkt Hauptbahnhof ist nicht zufällig gewählt. Er ist für Menschen, die im öffentlichen Raum Leben ein wichtiger Ort bzw. eine gute Anlaufstelle. Viele Gründe liegen auf der Hand wie Wetterschutz oder öffentliche Toiletten. Außerdem ist es von Vorteil, dass man  auf einem großen Bahnhof nicht so auffällt, selbst wenn man den ganzen Tag herumstreift.

Nicht zu vergessen ist das frei nutzbare WiFi. Wer mich kennt oder schon öfter meinen Reiseblog gelesen hat, weiß sofort, wie wichtig das sein kann, wenn man unterwegs ist. Und für manch einen Obdachlosen ein ganz wichtiges Mittel um mit nahestehenden Menschen in Kontakt bleiben zu können. So auch für unseren Guide Robert, der ein Handy besitzt, weil er eigentlich nur von Deutschland nach Wien übersiedeln wollte und ungeplant auf der Straße landete.

Fast eine Pilgerreise

Weiter ging es vorbei an einer Caritas Tagesstätte. Wir wurden mit ganz vielen Informationen versorgt. Unglaublich ist es für mich, dass auch die Obdachlosen in eine quasi Zwei-Klassen-Gesellschaft geteilt werden. Die Anspruchsberechtigten und jene, die nicht Anspruchsberechtigte sind. Für die zweite Gruppe ist es noch viel schwieriger die Herausforderungen des Obdachlosenlebens zu meistern.
Jedenfalls sind diese Menschen jeden Tag damit beschäftigt einen Schlafplatz – wenn verfügbar in einer entsprechenden Einrichtung – zu organisieren. Außerdem pilgern sie von einer Stätte zur nächsten um Essen zu bekommen, nach Möglichkeit Wäsche zu waschen, eventuell medizinische Hilfe zu bekommen, Beratung oder Unterstützung von Sozialarbeitern empfangen und vieles mehr was notwendig und für uns ganz selbstverständlich ist.

Herbergssuche

Wenn ich auch selbst noch nie obdachlos war, kann ich ein ganz kleines bisschen nachvollziehen, wie es sich anfühlt, gerade keinen Unterschlupf zu haben. Als erprobte Backpackerin weiß ich wie zeitaufwendig es manchmal sein kann ein Quartier zu finden und wie anstrengend das ist, wenn man schon den ganzen Tag bei ungutem Wetter auf den Beinen und eigentlich hundemüde ist und einfach nur ins Bett fallen möchte. Was ich beim Reisen nur für relativ kurze Zeit erfahre relativiert sich dadurch, dass ich ein Zuhause habe. Das ist immer für mich da. Auch wenn ich gerade auf Reisen bin.

Als wir dann im Schweizergarten Station machten erzählte uns Robert wie man gute Plätze zum Übernachten im öffentlichen Raum, also beispielsweise in einem Park, aussucht. Und er beantwortete uns alle Fragen, die uns unter den Nägeln brannten sehr offen und ausführlich. Die Themenpalette reichte von Zähne putzen, über duschen, Nagelscheren als Weihnachtsgeschenk, gestohlenen Sachen, Kulturpass bis hin zu Nachhilfestunden. Insgesamt war es sehr berührend und traurig aber auch spanndend und informativ.

Ich finde es betrüblich, dass Robert der Liebe wegen nach Wien gekommen ist und hier als Obdachloser gestrandet ist. Auch wenn er jetzt schon auf einem guten Weg ist, dieses Schicksal zu meistern, hätte ich im gewünscht, dass er Wien als Tourist oder Gastarbeiter kennengelernt hätte. Aber es freut mich, dass ich dank ihm Wien einmal von einer ganz anderen Seite kennen lernen konnte.

Wer sich jetzt selbst auf die zweistündige Tour begeben möchte, die 15 Euro kostet, kann die Termine auf www.shades-tours.com finden und buchen.

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